Mindestvoraussetzungen für Ausnahmebewilligungen
Neue Wohnnutzungen entlang von Kantons- oder Gemeindestrassen und Bahnlinien im Siedlungsraum
Die Vollzugspraxis bei neuen Wohnnutzungen im lärmigen Siedlungsraum sollte Hand bieten, den Konflikt zwischen den Interessen des Lärmschutzes beim Wohnungsbau und dem Gebot der Verdichtung im Siedlungsraum sowie den orts- und städtebaulichen Anforderungen zu entschärfen.
Erreicht werden soll zum einen eine Aufwertung der öffentlichen Strassenräume, zum andern eine hohe Wohnqualität, indem alle Wohneinheiten als Ausgleich zu den stark belasteten Fassaden auch ruhige Fenster- und Aussenbereiche ausweisen. Die Praxis gilt nur für erschlossene Perimeter, also wenn die Immissionsgrenzwerte massgebend sind.
Offenes Fenster bei Wohnräumen
Die Lärmschutzverordnung (LSV) verlangt, dass die Immissionsgrenzwerte (IGW) am offenen Fenster eines lärmempfindlichen Wohnraums eingehalten werden. Im offenen Fenster beurteilen, heisst auch mit offenem Fenster leben. Um den erforderlichen Bezug zum Aussenraum zu schaffen, muss das Fenster grundsätzlich ins Freie führen. In Kombination garantiert dies eine angemessene Wohnqualität bezüglich Lärmbelastung.
Ermittlungsort der Lärmbelastung
Definition Fenster
Fenster im Sinne der LSV sind Fenster mit Öffnungsmechanismus bzw. mit Rahmen und Flügel, auch wenn diese verschraubt sind. Keine Fenster sind transparente Fassadenbauteile ohne Öffnungsmechanismus.
Definition Lüftungsfenster
Zur Lüftung genügt ein Fenster, dessen Fläche 5 % der Bodenfläche beträgt und damit einen genügenden Luftaustausch gewährleistet. Das Fenster muss ins Freie führen und diese Verbindung darf nicht von Fassadenteilen oder anderen baulichen Hindernissen unterbrochen werden. Referenzpunkt für die Lärmermittlung ist die Fenstermitte. Dieser muss jedoch mindestens 1.5 m über dem Geschossboden liegen. Lüftungsfenster (LF) sind Fenster eines lärmempfindlichen Raumes mit Lärmbelastungen ≤ IGW, welche mit einem einfach zu bedienenden Öffnungsmechanismus ausgestattet sind. Wenn andere (öffenbare) Fenster (> IGW) vorhanden sind, so muss die Fläche der LF 5% der Bodenfläche betragen. Wenn keine anderen Fenster zur Belichtung vorhanden sind, so muss die Fläche der LF in der Regel jedoch 10% der Bodenfläche umfassen. Lüftungsfenster dürfen nicht durch andere Lärmarten über den IGW belastet sein (Mehrfachlärmbelastungen).
Definition Raumtypen und Farbcode
Zur Beurteilung der Ausnahmen gemäss Art. 31 Abs. 2 LSV ist eine Typisierung der lärmempfindlichen Räume notwendig. Zur einfacheren Handhabung in der Praxis werden diese mit einer Kennfarbe belegt:
- Als grün werden alle Räume bezeichnet, bei denen die IGW an allen Fenstern eingehalten werden. Sie sind USG- und LSV-konform und erfordern keine Ausnahme.
- Als gelb werden Räume bezeichnet, bei denen die IGW am Lüftungsfenster eingehalten werden.
- Als rot werden Räume bezeichnet, bei denen die IGW an allen Fenstern überschritten sind.
Kontrollierte Belüftung
Eine kontrollierte Belüftung (Einzelraumlüftung, Komfort- bzw. Wohnungslüftung) ist grundsätzlich keine Alternative zum Lüftungsfenster, auch wenn sie in der kalten Jahreszeit den Luftaustausch via Fenster ersetzt.
Voraussetzungen für Ausnahmebewilligungen
Alle nachfolgenden Voraussetzungen müssen erfüllt werden:
- Vorgesehen sind Neubauten oder wesentliche Umbauten mit neuer Wohnnutzung in Siedlungsgebieten, in denen aus raumplanerischen Gründen (haushälterische Nutzung, Verdichtung nach innen, Anbindung an den öffentlichen Verkehr) trotz hoher Lärmbelastung urbaner Wohnraum geschaffen werden soll.
- Bei den Lärmquellen handelt es sich um Gemeinde – oder Kantonsstrassen im Siedlungsgebiet, deren Strassenräume städtebaulich wichtig sind und deshalb nicht durch abweisende Lärmschutzbauten belastet werden sollen. Bei Bahnlinien trifft dies weniger zu, bei Autobahnen gar nicht.
- Der Anteil gewerblicher oder nicht lärmempfindlicher Nutzung entspricht dem raumplanerisch zulässigen oder zumindest zweckmässigen Mass.
- Alle zumutbaren Lärmschutzmassnahmen sind ausgeschöpft. Dazu zählen neben der lärmoptimierten Stellung der Gebäudekörper auch die lärmgünstige Anordnung der Wohnungsgrundrisse. Grundrisse mit Lüftungsfenstern ausschliesslich in Loggien oder Balkonen mit Fassadenbelastungen über den Immissionsgrenzwerten der Empfindlichkeitsstufe III gelten als nicht optimiert.
- Mit der Anordnung der Baukörper (Riegelbauten) werden lärmgeschützte Aussenräume geschaffen.
- Mit gestalterischen Massnahmen am Gebäude (Erker, Atrien sowie Loggien und Balkone, die jedoch nicht nur aus Lärmschutzgründen gebaut werden) können die IGW nicht an jedem Fenster der lärmempfindlichen Räume eingehalten werden.
Sind alle oben beschriebenen Voraussetzungen erfüllt, so können für gelbe Räume Ausnahmen beantragt werden.
Kanton Zürich: Ausnahmebewilligung für öffenbare Fenster und Höhe der IGW-Überschreitung
Soll für rote Räume eine Ausnahme erteilt werden, so gelten für Wohnungen mit 3 Zimmern und mehr folgende zusätzliche Voraussetzungen:
- Pro Wohneinheit wird maximal für ein Drittel der Wohnräume eine Ausnahmebewilligung erteilt. (Beispiel 3.5-Zimmer-Wohnung: 1).
- Alle Wohneinheiten verfügen über Wohnräume, die lärmabgewandt orientiert sind und deren Belastungen am Lüftungsfenster die für eine akzeptable Wohnqualität angemessenen IGW der ES II nicht überschreiten.
- Die Wohnungen verfügen über einen ruhigen Aussenbereich (Balkon, Sitzplatz, Terrasse: Mindesttiefe 2 m und Mindestfläche 6 m²), dessen Belastung am Tag den IGW der ES II nicht überschreitet (lärmexponiertester Empfangspunkt, 1.5 m über Boden).
- Einzelraumbelüftung für rote Zimmer mit Überschreitung der IGW ES III.
Mechanische Belüftung
Kanton Thurgau: Mindestvoraussetzungen für Zustimmung
Für neue 2 bis 2.5-Zimmer-Wohnungen gilt bezüglich roter Räume folgende Regelung:
- Maximal ein rotes Zimmer
- Das zweite Zimmer darf am Lüftungsfenster die für eine akzeptable Wohnqualität angemessenen IGW der ES II nicht überschreiten.
- Ein ruhiger Aussenraum unter 60 dB am Tag, mindestens 4 m², da Kleinwohnung. Allenfalls sind auch gemeinsame Aussenräume zulässig (z.B. Dachterrasse).
Loggien und Balkone, welche lärmwirksam sind, müssen die Minimalmasse von 6 m² und 2 m Tiefe einhalten. - Einzelraumbelüftung für das rote Zimmer.
Mechanische Belüftung
Diese Regelung gilt auch für Alterswohnungen und Pflegewohnungen.
Die Lärmoptimierung der Grundrisse hat immer erste Priorität. Sind in einem Gebäude verschiedene Wohnungsgrössen vorgesehen, so sind die roten Räume primär bei den grossen Wohnungen vorzusehen.
Entlang von Autobahnen, Hochleistungsstrassen und Bahnlinien am Siedlungsrand kann für rote Räume keine Ausnahme erteilt werden. Dies ist damit zu begründen, dass hier nicht die gleichen Anforderungen an den siedlungsverträglichen Strassenraum bestehen, welcher unter anderem durch eine offene Fassadengestaltung begünstigt wird. Mit Ausnahme der roten Räume gelten die oben genannten Voraussetzungen für Ausnahmebewilligung. Auch an solchen für Wohnnutzung eigentlich ungeeigneten Lagen muss eine hohe Wohnqualität erreicht werden, indem alle Wohneinheiten als Ausgleich zu den stark belasteten Fassaden auch ruhige Fenster- und Aussenbereiche aufweisen.
Überwiegendes Interesse
Die zuständige Behörde begründet das für die Ausnahmebewilligung notwendige überwiegende Interesse an einer Wohnnutzung gegenüber dem Lärmschutz.
Praxis Kanton Thurgau
Für Wohnungen mit roten Räumen gilt, dass die beiden nachfolgenden Voraussetzungen nicht kumulativ erfüllt sein müssen:
Alle Wohneinheiten verfügen über Wohnräume, die lärmabgewandt orientiert sind und deren Belastungen am Lüftungsfenster, die für eine akzeptable Wohnqualität angemessenen IGW der ES II nicht überschreiten.
ODER;
Die Wohnungen verfügen über einen ruhigen Aussenbereich (Balkon, Sitzplatz, Terrasse: Mindesttiefe 2 m und Mindestfläche 6 m²), dessen Belastung am Tag den IGW der ES II nicht überschreitet (lärmexponiertester Empfangspunkt, 1.5 m über Boden).
Abweichungen und Ergänzungen gegenüber der Plattform «bauen-im-laerm.ch» (2023)
Kanton Zürich
Aufgrund der persistenten Rechtsprechung im Kanton Zürich hinsichtlich der Beurteilung der Wesentlichkeit von IGW-Überschreitungen kann nach erfolgter Lärmoptimierung für öffenbare Fenster lärmempfindlicher Wohnräume bei verbleibenden IGW-Überschreitungen nur bis zu Immissionen von 70.0 dB am Tag und 60.0 dB in der Nacht einer Ausnahmebewilligungen nach Art. 31 Abs. 2 LSV zugestimmt werden.
Bei höheren Überschreitung kommt eine solche Ausnahmebewilligung allenfalls noch in Frage, wenn:
- das betroffene Fenster als Festverglasung (mit Reinigungsöffnung) ausgeführt und entsprechend in den Projektplänen bezeichnet wird;
- unabhängig davon bereits wohnhygienisch einwandfreie Verhältnisse bezüglich Belüftung und Belichtung durch öffenbare Fensterflächen im Sinne von § 302 Abs. 2 PBG und kantonaler Vollzugspraxis gewährleistet sind.
Eine Ausnahmebewilligung nach Art. 31 Abs. 2 LSV ist auch bei einer Festverglasung notwendig und damit sind die Massnahmenprüfung und Lärmoptimierung (inkl. deren Dokumentation) durch die Bauherrschaft sowie das überwiegende öffentliche Interesse der kommunalen Baubehörde vorausgesetzt.